Rudolf Schricker, Innenarchitekt BDIA
Storedesign als Königsdisziplin: All das, was an gestalterischer Überzeugungsarbeit, an emotionaler Ergriffenheit in Raumgestaltung einzubringen und anzuwenden ist, kulminiert und wird auf den Prüfstand gestellt, wo Menschen Kaufentscheidungen treffen. Wollen Produkte glaubwürdig und interessant präsentiert werden, Neugierde erzeugen, Sehnsüchte bedienen, wirken Atmosphäre und räumliche Situation synästhetisch, hoch emotional. Licht, Akustik, Gerüche, körperliche und geistige Ergriffenheit sind seit jeher bewährte Inszenierungsmittel im Setting.
Ohne den potenziellen Käufer persönlich zu kennen, gelingt es damit, auch Einzelne in ihrer speziellen Verfassung anzusprechen und allgemeine Bedürfnisse zu wecken: Anreize setzen; Sicherheit vermitteln; Anerkennung und Wertschätzung suggerieren; jedes Mal Phantasie und Vorstellung generieren, individuell Persönlichkeit zum Ausdruck bringen und dem Leben einen neuen Sinn verleihen. Geschichten werden erzählt – Storytelling. Positive Erinnerungen an persönliche Erfahrungen schaffen Urvertrauen und Bindung.
Dazu ergießt sich ein Digitalisierungstsunami über die analoge Gestaltungswelt der Warenofferte. Der gestalterische Wortschatz ändert sich: synergetisches Planen, gestaltendes Steuern und interaktives Beeinflussen der zahlreichen verfügbaren Vertriebskanäle und CustomerTouchpoints verändern auch Designbewusstsein. Alles dreht sich offenbar darum, Kundenerlebnis und Verkaufserfolg nur noch über die verschiedenen Vertriebskanäle und integrativen Prozessschritte hinweg gestalterisch zu optimieren. Sämtliche Kommunikationskanäle werden vernetzt, Konsumenten nutzen heute dank heterogener Informationsangebote parallel mehrere Kanäle: von Internet über Katalog und Onlineshops bis hin zu Apps für Mobile Devices und Präsenz in den sozialen Medien. Multimedia macht es möglich: „Heureka!“ klingt es durch kreative Designlandschaften, und trotz Krisen und Untergangsszenarien vielerorts wirkt der Retail wie entfachendes Brennglas und Begründung für höchste Berufszufriedenheit unter Designaffinen - „zu finden“, wo andere sinnentleert vergeblich suchen.
Berufsinhalte sind in Architektur und Design, ähnlich wie in Medizin und Kunst, Lebensinhalte. Die meisten lieben und leben ihren Beruf und dessen Flow. Dies gilt sicher auch für die Gestaltung von Verkaufsräumen. Bau- und Gestaltungsqualität von Läden und Shops erreichen hierzulande Spitzenniveau. Im Laden „zu finden“, was anderenorts vergeblich gesucht wird, beschreibt Shopdesign gerne mit Information, Orientierung und Identität, gerade so, als würden Kunden im Laden zu sich selbst finden.
Fast unmerklich hat sich eine Art Immersion des Retail entwickelt; virtuelle Realitäten erlauben intensive Interaktion mit Umgebung. Bei aller Ambivalenz von Immersion, Design tut gut daran, sich der Außenwelt nicht zu entziehen, vielmehr sich auf die Welt der Dinge und der Bedeutungszumessung durch Menschen einzulassen. Im konzentrierten Tun, in der Auseinandersetzung mit dem Material und der daraus entstehenden Wechselwirkung mit Menschen bewahren Interior Designer einen Zustand von innerer Freiheit, dem ausschließlich kommerziellen Diktat entzogen, noch besser mit humanwissenschaftlicher Erkenntnis unterlegt. Retaildesign kann es sich wieder erlauben, realer, physischer, subjektiver – oder besser: empathischer – zu werden.
Design-Transformation auf ganzer Linie: Das Primat des Optischen, diese epochale Argumentpflege visueller Ästhetik, reicht nicht mehr, seitdem sich die Erkenntnis synästhetischer Wirkung von Environment auf Wohlbefinden, Gefasstheit und Verhalten der Menschen durchsetzt. Helfen könnte angewandte Wissenschaft, insbesondere Human Centered Design und die immer häufiger zitierte „spontane Interaktion“, also die Wechselwirkung von Erlebnisräumen und Produkten mit Menschen und Menschen untereinander.
Standen bislang im Ladenbau Emotionen und gefühlte, aber schwer erklärbare Erfahrungen Pate bei rationalen und ökonomischen Entscheidungen, werden immer häufiger evidenzbasiertes Designwissen und humanwissenschaftlich begleitete „User Experience Designevaluation“ abgefragt. Sie liefern wissenschaftlich unterlegte Gründe für eine motivierte Gestaltung in Form, Ausdruck und Symbolik, gesteigert zu einem Klang, der in Resonanz zu den Sinnesmodalitäten einer erlebenden Aufmerksamkeit steht – im allgemeinen Sinne. Unter dem Blickwinkel einer Architektur von innen erweitert sich aber das motivierte Gestaltungsziel um den Aspekt einer Passung der Handlungs- und Erlebensangebote der gebauten Lebenswelt – und hier der Verkaufswelt – auf die Bedarfe des Einzelnen im organisationsbezogenen Alltagsgeschehens am PoS. Das erfordert nicht nur einen hohen Bewusstheitsgrad organisationaler Ziele und des daraus folgenden Verkaufsgeschehens, sondern sollte die geeignete Umgebung unter Einbezug aller Wahrnehmungen in die Handlungs- und Erlebensangebote identifizieren.
Der Schritt von allgemeinem Erkenntnisstand über Wirkung des Raumes auf Menschen hin zu Einbezug des Individuums, die Rücksichtnahme auf jeden Einzelnen, die Interaktion als spontanes, stets anderes und nie gleiches Ereignis, Spiel steht an. „Healing Interior“ gilt längst nicht mehr nur im Gesundheitsbereich; auch physisch, psychisch und sozial wohlbefindliche Menschen sind gut für Kauf und Verkauf, Healing Facts wirken dialektisch und gehören ähnlich einem Medikament fein dosiert. Human Centered Design ist im Laden oder im Internet angekommen; kluge, justierte Erkenntnisanwendung, individuelle Interaktion und deren positive Bindung in Folge.
Aus den „Consumern“ – den unberechenbaren Wesen - werden wieder Menschen, mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Hoffnungen; und das ist endlich einmal eine beruhigende Erkenntnis. Selbst wenn sich offenbar der „neue Marktplatz“ auf den Social Media Plattformen herauskristallisieren sollte, und selbst wenn der Technologie-Boom am PoS eine Menge spektakulärer Features und Augmented Reality bieten kann - am Menschen orientierte Gestaltung gewährleistet weiterhin Sicherheit und Glaubwürdigkeit bei Auswahl und Entscheidungen, egal ob im Shop, im Internet, im Katalog, per Smartphone oder Tablet.
Interior Design für Handel und Konsumenten vereint reelle und virtuelle, analoge und digitale Räume und entgrenzt - und gestaltet - diese Räume mit dem Empfinden von Verkäufern wie Käufern. Deren Erwartungen und Hoffnungen spiegeln sich in den integrativen Entwurfsideen für analoge und digitale Schnittstellen.
Es macht sehr wohl einen Unterschied zwischen digitaler Interaktion im Internet, mit sich selbst alleine, und einer sozialen Interaktion im Laden mit oft wildfremden, gleichgesinnten Menschen. Persönliche Interaktion im stationären Handel ist ein Schatz, der online nicht zu erreichen ist. Ziel sollte immer sein, Kunden dauerhaft für seine Einkaufsstätte zu gewinnen und sie bei all ihren Besuchen so angenehm und komfortabel wie möglich zu begleiten, mit kompetentem und vertrauenswürdigem Personal und Equipment, das Teil des Gesamtkonzeptes „Shopdesign“ ist.
Erschienen im STORE BOOK 2023. Hier bestellen.
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