Gründerin von X+Living Architectural Design Shanghai und Chief Creative Designer
In den Jahren nach der weltweiten Pandemie haben wir eine turbulente Zeit, geprägt durch wirtschaftliche Schwankungen und der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz, erlebt.
Die Unsicherheit der Menschen über die Zukunft und die geschwächte Widerstandsfähigkeit haben in China zu einer konservativeren Ausgabenpolitik geführt. Man verlässt sich nun eher auf Mainstream Online-Empfehlungen und Medien-Rankings. Die COVID Sperre hat dazu geführt, dass sich die Menschen daran gewöhnt haben, ihr Leben in den sozialen Medien zu teilen, um emotionale
und soziale Bedürfnisse zu erfüllen. Die traditionelle Einkaufsgewohnheiten sind nicht mehr attraktiv, die Kunden suchen nun vermehrt nach anregenden Erlebnissen, wenn sie stationär einkaufen.
Dieser Wandel im Verbraucherverhalten spiegelt einen Widerspruch in der menschlichen Natur wider. Die Menschen wollen visuelle Überraschungen und sensorische Erlebnisse, aber diese sollen in einer sicheren Umgebung stattfinden. Dieses Tauziehen zwischen Rationalität und Nervenkitzel hat dazu geführt, dass in der heutigen chinesischen Geschäftslandschaft zwei parallele Szenarien nebeneinander existieren. Auf der einen Seite haben die Geschäftsinhaber erkannt, dass physische Läden nicht mehr nur Räume zum Verkauf von Waren sind, sondern auch Orte, an denen man mit Kunden in Kontakt treten kann. Ein Einkaufszentrum, das die Kunden immer wieder aktiv zum Besuch einlädt, wird langfristig mehr Umsatz verbuchen können. Das Storedesign ist zu einem der Mittel geworden, die Kunden begeistern und zu Markenbotschaftern machen können.
Wenn ich Designs für meine Einzelhandelskunden entwerfe, nutze ich Geschäftsstrategien, die über die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse hinausgehen. Ich helfe Marken, auf neue und innovative Weise zu denken, und dränge auf einzigartige und mutige Designs. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel an einem Projekt für Pop Mart , eine trendige Spielzeugmarke, gearbeitet und den Flagshipstore in Shanghai gestaltet. Wir konzentrierten uns zunächst darauf, die Sichtbarkeit der Marke zu verstärken, indem wir die Ladenfront mit einer großen, auffälligen und dekorativen Fassade umgestalteten. Wir verwendeten leuchtende Farben und 3D-Drucktechnologie, um ein visuell ansprechendes und komplexes geometrisches Design zu schaffen. Das Ergebnis ist ein direkt ins Auge fallendes Geschäft in einem der belebtesten Geschäftsviertel Shanghais, das sogar zu einem Wahrzeichen in der trendigen Spielzeugbranche geworden ist.
Obwohl Design die wirtschaftlichen Ansprüche der Unternehmen durch Kreativität und Ästhetik teilweise erfüllen kann, steht die Branche vor einer neuen Herausforderung. Dies ist das andere
Szenario, das ich erörtern möchte. Offizielle Statistiken zeigen, dass der diesjährige chinesische Nationalfeiertag ein doppelt so hohes Personenaufkommen aufwies wie die verkehrsreichste
Reisezeit zum Frühlingsfest in den Vorjahren. Dies beweist den Trend zu Nachholreisen nach der Pandemie. Doch trotz des regen Tourismus hat die Kaufkraft der Verbraucher abgenommen.
Diese widersprüchliche Situation hat zu einem Einbruch des Marktes geführt.
Wir haben festgestellt, dass es immer schwieriger wird, Store Besuche in Verkäufe umzuwandeln, sowohl online als auch offline. Um ein in den sozialen Medien bekanntes Shoppingziel zu schaffen, setzen einige Brands blindlings auf auffällige Designs zu niedrigen Kosten. Sie jagen flüchtigen Trends hinterher, in der Hoffnung, die Verbraucher mit preiswerten, schnell austauschbaren Flächen anzulocken. Infolgedessen sind immer mehr Einzelhandelsgeschäfte mit bruchstückhaften, aber anregenden visuellen Erlebnissen gefüllt, die jedoch ausschließlich „instagrammable“ sind und nur dafür geschaffen wurden. Leider wird bei diesen Entwürfen vernachlässigt, wie wichtig es ist, kontinuierliche, markenzentrierte Raumerlebnisse zu schaffen.
Was mich beunruhigt, ist, dass diese billig gebauten, im Internet berühmt gewordenen Entwürfe zu einer Homogenisierung der räumlichen Themen und der Ästhetik auf dem Markt führen können. Wenn dieser Fall eintritt, wird niemand mehr bereit sein, für Kreativität zu bezahlen. Was ist, wenn die Trends verblassen, wenn die Verbraucher allmählich der gängigen Instagram Designs und der Räume überdrüssig werden, die nur vorübergehend Freude und Anregung bieten? Dann wird es irgendwann wieder innovative Designer brauchen, die Markttrends neu definieren. Wie also können wir Designer in einem solchen Umfeld bahnbrechende Lösungen finden?
Ich möchte Ihnen ein Projekt zur Renovierung von Toiletten vorstellen, an dem ich dieses Jahr für Deji Plaza, einem Shoppingcenter in China, gearbeitet habe. Während der Entwurfsphase schlug ich dem Kunden vor, die Toilette in einen künstlerischeren öffentlichen Freizeitraum zu verwandeln. In diesem Luxus-Einkaufszentrum, in dem Platz sehr kostbar ist, wollte ich die Toilette nicht nur effizienter gestalten, sondern auch ein Erlebnis menschlicher Beziehungen schaffen. Nach der Fertigstellung wurde dieser Raum zu einem beliebten Ziel in der Stadt, der viele Besucher anlockte und dem Einkaufszentrum zu mehr Aufmerksamkeit verhalf. Das Projekt wurde zu einer bemerkenswerten Fallstudie in der Branche. Kürzlich haben internationale Luxusmarken wie Burberry, Jo Malone und Dior sogar Pop-up-Ausstellungen in der Toilette veranstaltet. Dieser funktionale Raum hat sich in eine Ausstellungsfläche für den Einzelhandel verwandelt und einen kommerziellen Wert geschaffen.
Bei diesem Projekt wurde mir klar, dass der Wert von Design vielleicht auch darin liegt, Stereotypen zu brechen und neue Konsumgewohnheiten zu fördern. Einzelhandelsflächen müssen nicht mehr den traditionellen Formen entsprechen. Die Designer sollten die Möglichkeiten nutzen, innovative Wege zu gehen und Neues zu schaffen. Ich glaube, dass angesichts des sich rasch verändernden gesellschaftlichen Umfelds und der vorherrschenden Aufmerksamkeitsökonomie in Zukunft unweigerlich komplexere und vielfältigere Geschäftsformate entstehen werden. Und Design ist immer ein Teil des Geschäfts, es gibt kein Allheilmittel, nur die Einsicht, die Anpassungsfähigkeit und das Verständnis der menschlichen Natur können zu guten Lösungen führen.
Erschienen im STORE BOOK 2024. Hier bestellen.
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