Dr. David Bosshart, CEO, Gottlieb Duttweiler Institut
„Das Ende des Konsums”, wie der Titel einer Ihrer jüngsten Studien lautet, ist bei genauerer Betrachtung vor allem ein Ende des Konsums „as we know it”, sprich: des althergebrachten Einkaufens. Doch Menschen werden auch künftig Dinge kaufen müssen. Welche Funktion kommt dem Einzelhandel dabei zu?
Es geht um eine dreifache Revolution: Konsum-Revolution, Handels-Revolution und Daten-Revolution. Erstere bedeutet im Kern, dass der Warenkonsum sich ent-ortet, also immer weniger vom Standort abhängig wird, und dass er sich dematerialisiert, das heißt, immer mehr von Dienstleistungen und Erlebnissen überschichtet wird. Der Warenkonsum selbst wächst nur noch wenig, Dienstleistungs- und Erlebniskonsum hingegen wachsen dreimal oder sogar viermal so schnell.
Die zweite Revolution führt dazu, dass der Handel auf seine Hauptfunktion reduziert wird:
Wir brauchen immer weniger Händler, dafür immer mehr Handel. Die Konsolidierung schreitet voran, und am Schluss bleiben die stärksten Plattformen übrig. Entscheidend ist aber die dritte Revolution: Daten. Die Formel lautet: Keine Daten, kein Handel. Wer über qualitativ gute Daten verfügt und mit diesen klug umgehen kann, gewinnt.
Die Verlagerung von großen Teilen des Einzelhandels ins Internet hat sichtbare Folgen für soziale Räume. Unser Verständnis von Stadt ist nach wie vor von der Präsenz des Handels geprägt. Wie wird sich der öffentliche Raum – auch in boomenden Städten – mit der Digitalisierung des Handels verändern, und welche Funktionen könnten den Handel dort ersetzen?
Wir stehen am Beginn eines Strukturwandels. Die Entwicklung verlagert sich von einer Raumlogistik hin zu einer Zeitlogistik. Wir messen nicht mehr die räumliche Distanz, sondern die zeitliche: Kunden haben in den vergangenen Jahren dank immer besserer smarter Endgeräte gelernt, sofort zu bekommen, was sie wollen – unabhängig vom Ort. Das ist die schon erwähnte Entortung. Wo immer ich bin, die Ware kommt sofort zu mir. Lange Wartezeiten wie beim Schlangestehen an der Kasse oder bei McDonald’s werden als Zumutung erlebt. Grundsätzlich gilt: Wer Convenience bietet, schaltet einen „Pain Point” beim Kunden aus, erspart ihm also eine Zumutung. Das bedeutet aber auch, dass Bequemlichkeit stärker ist als das Gewissen. Die unmittelbare Belohnung wirkt mächtiger als die aufgeschobene Bedürfnisbefriedigung.
In der Summe handeln wir vorhersehbar irrational. Online-Shopping bedeutet für viele Leute aber schlicht und einfach auch, risikolos einkaufen zu können. Anbieter kommen ihnen entgegen, denn die Unternehmen brauchen Umsatz und die Wirtschaft Wachstum. Dafür wird akzeptiert, dass die alltäglichen Verrücktheiten zunehmen.
Nehmen wir das Beispiel der sprichwörtlichen „Letzten Meile”-Problematik. So kommen in Manhattan aktuell täglich über 1,1 Millionen online bestellte Paketsendungen an; dafür müssen im Zeitraum eines Jahres 35,7 Millionen Lieferwagen in die City fahren. Dieses Aufkommen übersteigt mittlerweile den B2B-Lieferverkehr. Tendenz ist weiterhin steigend. Darauf sind unsere Städte nicht vorbereitet. Lieferfirmen wie FreshDirect, PeaPod, UPS oder FedEx haben im vergangenen Jahr 515.000 Strafzettel für das Blockieren von Straßen oder für Falschparken bekommen. Die chinesische Plattform Alibaba wiederum wickelt am Singles Day zu Spitzenzeiten 325.000 Transaktionen ab – pro Sekunde. Die schnellste Auslieferung erreichte den Kunden bereits nach 12 Minuten.
In manchen Branchen wie der Mode ist der stationäre Handel durch das Online-Geschäft erheblich unter Druck geraten. Händler wollen mit Investitionen dagegenhalten und suchen ihr Heil nicht selten in der Digitalisierung ihrer Läden. Was halten Sie davon?
Die Flächennutzung steht fast vollumfänglich zur Disposition. Die industrielle Welt hat alles getrennt: Arbeiten, Wohnen, Freizeit, Shopping. Die digitale Welt bringt nun wieder alles zusammen. Daher sehen die Flächen auch alle genau gleich aus und sind mit dem gleichen Mindset designt: Mein Wohnzimmer sieht aus wie ein Starbucks, Starbucks sieht aus wie die Hotellobby, die Hotellobby sieht aus wie mein Arbeitsplatz, und mein Arbeitsplatz sieht aus wie die Business Lounge bei der Lufthansa. Entscheidend ist, dass ich mich sofort zu Hause fühle in diesen Räumen. Coming Home ist unerlässlich – sonst kaufe ich nichts. Räume werden zur Ableitung der Möglichkeiten der digitalen Welt. Aber Achtung: Je unsichtbarer die Technologie, desto besser. Gute Technologie ist „calm tech” – nie aufdringlich, sondern unterstützend.
Welche Branchen sind Ihrer Meinung nach nicht zukunftsfähig, werden also in absehbarer Zeit nicht mehr als Handelsformate existieren?
Ich würde nicht bei der Branche oder bei Vertriebstypen ansetzen, sondern bei der Funktion. Amazon steht dafür, dass es viel einfacher ist, als starker Pure Player einmal in Richtung Omnichannel zu gehen, als vom stationären Handel erfolgreich in den Online-Bereich vorzustoßen. Wer Legacy-Probleme mitschleppt, muss sich mit der Über-Komplexität von Organisation und Führungsstrukturen herumschlagen. Daher ist China auch viel besser dran als die alten, gewachsenen Händler in Europa oder den USA. Die Ausnahme ist wohl Walmart, die auf gutem Weg sind. Food wähnt sich gegenüber allen Nonfood-Kategorien fälschlicherweise auf der sicheren Seite, weil man ja „immer essen muss und Genuss Spaß macht”. Doch der Shift hin zur Gastronomie wird von den Food-Händlern nach meiner Erfahrung noch nicht wirklich verstanden. — Pop-up-Mentalität, flexible Flächenbewirtschaftung, neue betriebswirtschaftliche Modelle in Kombination mit Zeitlogistikkonzepten werden unerlässlich. Ohne entsprechende, vernetzte Daten wird das aber nicht gehen; und ohne kluge Partnerschaften und Kooperationen sind die Kosten nicht mehr zu stemmen. Der Komplexitätsstress nimmt für alle Beteiligten zu.
Der Ladenbau als dienendes Gewerk des Einzelhandels ist von all diesen Entwicklungen mittelbar betroffen. Welche Kompetenzen müsste er sich aneignen, um auch nach dem „Ende des Konsums” eine Rolle beim Einkaufen zu spielen? Haben gut gestaltete Räume als Ort der Begegnung, des Austauschs und auch des Handels als erweiterte Sphären - Stichwort: Third Places – vielleicht eine Chance?
Menschen gehen dorthin, wo andere Menschen hingehen. Der Aufstieg von Food bzw. Gastronomie ist ein deutlicher Hinweis. Social Spaces aller Art werden die kommenden Jahre noch mehr prägen. Dort will ich mich in der Kleingruppe – Freundinnen, Männerkumpels, Familien, Pensionisten – wohlfühlen. Gleichzeitig nimmt die Individualisierung zu, der „Alone”-Konsument wird immer wichtiger. Daher haben die Restaurants immer mehr „tables for one”. Zunehmend mehr Menschen wollen beim Essen in Ruhe gelassen werden. Wir gehen auf eine hyperindividualistische Gesellschaft zu, die sich dennoch durch klar definierte Gruppenzugehörigkeiten abgrenzt. Im Luxusbereich, etwa bei Uhren, kann ich den Kunden über Social Media direkt ansprechen. Der kauft seine Ware dann nicht mehr im öffentlich zugänglichen Laden, sondern wie heute schon in Hong Kong oder New York in einer gut designten Wohnung im 23. Stock, in der er wie ein Freund empfangen und beraten wird: in schönen Sofas mit Kaffee und Kuchen oder Champagner. Die industrielle Phase der linearen Regal-Logik mit dem langweiligen, öden Filialgefühl geht zu Ende. Der Ladenbauer wird deshalb zum Service-Entwickler, Innenarchitekten, Wohnungsdesigner, Arbeitsplatzgestalter und K.I.-Programmierer.
Erschienen im STORE BOOK 2020. Hier bestellen.
Der Philosoph Dr. David Bosshart beschäftigt sich als CEO des Gottlieb Duttweiler Instituts in Rüschlikon, Zürich, schon lange mit der Zukunft des Einkaufens und der sich wandelnden Rolle sozialer Räume. Unlängst legte er mit der Studie „Das Ende des Konsums” einen Nachruf auf den traditionellenEinzelhandel vor. Doch in den allgemeinen Abgesang auf den guten alten Laden will er nicht einstimmen. Als Raum der Kommunikation, des Erlebens und der sozialen Begegnung wächst dem stationären Geschäft eine neue Rolle zu. Der Ladenbau avanciert vom Dienstleister eines Handels, der in ablaufoptimierten Filialen und Quadratmeterumsätzen denkt, zum Designer von Erlebnis- und Begegnungssphären. Mehr erfahren über den Autor.